„Stillen ist wie ein kleines Handwerk, das man erlernen kann.“

Was kann ich tun, damit der Stillbeginn gelingt? Und wo finde ich Hilfe, wenn das Stillen schwierig ist? Olivia Engel ist Krankenschwester sowie Still- und Laktationsberaterin IBCLC. Im Interview gibt die Expertin Tipps und erklärt, wie eine Stillberatung helfen kann.

Olivia Engel leitet die Elternschule am Hamburger Marienkrankenhaus. Im Sommer 2020 hat sie dort zusammen mit einer Kollegin die Still- und Familienberatung „Stillraum“ ins Leben gerufen. Im Interview erklärt Olivia Engel, wie der Stillbeginn gelingen kann. Und sie zeigt auf, was bei Still-Krisen helfen kann.

Frau Engel, warum haben Sie das Projekt „Stillraum“ an Ihrem Krankenhaus gestartet?

Olivia Engel: In Hamburg herrscht ein großer Mangel an Hebammen. Viele Frauen haben also keine Unterstützung nach der Geburt im Wochenbett. Gibt es Probleme, zum Beispiel beim Stillen, sind sie damit allein. Dadurch kommt es häufig zu einem frühzeitigen Abstillen, obwohl die Frau gern weitergestillt hätte. Hier gibt es viele, Ansätze Mutter und Kind zu unterstützen. So entstand das Projekt Stillraum. Direkt nach dem Entlassungsgespräch geben wir den Müttern Informationen zum Stillraum mit. Bei Problemen und Schwierigkeiten können Eltern einen Termin ausmachen und erhalten kostenlose Beratung.  

Mit welchen Fragen kommen die Frauen zu Ihnen in die Stillberatung?

Die meisten Frauen kommen zu uns, weil sie weiterstillen möchten, aber in einer Krise sind. Für die Still-Krise gibt es unterschiedliche Auslöser. Das Baby ist zum Beispiel beim Stillen sehr unruhig. Oder das Kind hat nicht genug zugenommen. Manche Frauen leiden an wunden Brustwarzen oder an einem Milchstau. Auch den berühmten Stillstreik gibt es: Plötzlich mag das Kind nicht mehr an der Brust trinken.

Wie helfen Sie den Frauen, diese Schwierigkeiten zu überwinden?

Es ist wichtig, erst einmal zu fragen: Was möchte die Frau? Was ist ihr Ziel? Ich hole dann die Frauen da ab, wo sie sind. Viele Frauen machen sich ganz viel Druck oder haben Angst zu versagen. Diese Ängste möchte ich ihnen nehmen. Ich begleite gerne eine Stillmahlzeit und währenddessen helfe ich der Frau, die Stillposition zu optimieren. Das Anlegen kann oft optimiert werden.

Kinder, die beim Stillen unruhig sind, brauchen oft viel Körperkontakt. Dadurch fühlen sie sich sicher. Das geht gut auf dem Sofa. Die Mutter lehnt sich zurück und macht es sich bequem. Durch den Körperkontakt wird viel Oxytocin ausgeschüttet, das Kuschelhormon. Zur Beruhigung des Kindes können dies auch sehr gut die Väter machen.

Natürlich gibt es auch den klassischen Milchstau: Die Brust ist sehr empfindlich bis schmerzhaft, teilweise gerötet und Verhärtungen sind tastbar. Hier suche ich nach den Ursachen, warum die Milch nicht optimal fließen kann. Vielleicht wurde zu selten gestillt. Oder es liegt eine Saugschwäche des Babys vor oder die Mutter ist sehr gestresst. Dann ist die Frage, was man verändern kann. Ich kann außerdem Tipps geben, wie man den Milchfluss anregt.

Was kann helfen, den Stillbeginn zu erleichtern?

Das beginnt mit einem stillfreundlichen Start in der Geburtsklinik. Wenn das Baby geboren ist, legt sich die Mutter das Baby auf den Bauch. Durch den Hautkontakt und die Nähe werden seine Stillreflexe besonders gut ausgelöst. Die Mutter liegt dabei leicht erhöht. Das Kind robbt zur Brust. So kann das Kind das Stillen aktiv lernen. Außerdem erhält das Baby dabei die Zeit, die es braucht.

Auch Stillvorbereitungskurse helfen. So können sich Eltern über das Stillen informieren und früh Fertigkeiten entwickeln. Stillen ist wie ein kleines Handwerk, das man erlernen kann. Man braucht aber Zeit zum Üben.

Kommen auch Frauen zu Ihnen, die nicht mehr stillen möchten?

Ja. Und auch hier ist es wichtig, die Frauen ernst zu nehmen und gut zu begleiten. Sie haben ihre Gründe, warum sie nicht mehr stillen können oder möchten. Wir begleiten die Frauen dann auch beim Abstillen. Wir zeigen ihnen, wie man bindungsfördernd das Fläschchen geben kann. Etwa mit viel Kuschelzeit.

Natürlich spricht auch nichts gegen das „bunte Stillen“, so nenne ich es gerne. Dabei gibt man sowohl Muttermilch als auch Säuglingsanfangsnahrung.

Haben Sie einen Tipp, wie die Kombination aus Stillen und Fläschchen geben gut gelingen kann?

Das Brustsaugen ist anders als das Saugen an einem Fläschchen. Ich sage immer, die Kinder müssen zwei Fremdsprachen lernen. Es ist gut, zuerst die eine, dann die andere zu lernen. In den ersten sechs Wochen ist es für das Baby besser, wenn es zunächst das Saugen an der Brust übt. Danach können die Eltern das Flaschenfüttern einführen. Und es ist beispielsweise leichter, wenn der Partner das Fläschchen gibt.

Empfehlen Sie bei Bedarf auch weitere Hilfsangebote?

Ja, öfter. Zunächst kommen die Mütter wegen Stillproblemen. Fühlen sie sich in der Beratung wohl, öffnen sie sich mit anderen Sorgen und Problemen. Manchmal stecken ganz komplexe Geschichten dahinter. Diese Frauen brauchen mehr Unterstützung und Betreuung. Im Marienkrankenhaus haben wir die Babylotsen. Mit ihnen arbeiten wir eng zusammen. Wir vermitteln die Familien auch direkt in die Frühen Hilfen oder in Hilfsangebote des Stadtteils. Hier erhalten sie die Unterstützung, die sie brauchen.

27. Juli 2022